Martin Obst hat am Morgen die Pferde gefüttert, gemistet. Gegen 9.30 Uhr sitzt er auf dem Hof seines Fuhrbetriebes in Französisch-Buchholz mit seinem Vater und seiner Freundin Debora in der Kutscherstube zum Frühstück. Auf dem Tisch: Kaffee, ein Batzen Hackepeter, Zwiebelwürfel, Leberwurst, Altberliner Schrippen. „Sonst überstehen wir den Tag ja nicht. Und sonst wär‘ ich auch nicht so ‘n Kerl geworden wie ich bin“, sagt Obst.
Er ist wirklich ein Kerl, beinahe so breit wie hoch mit definierten Bizeps-, Brust- und Schultermuskeln. „Viele fragen ja, ob du Sport machst“, sagt Debora. „Ja, viele sprechen mich an, auch wegen der Ohren“, sagt der 33-Jährige. Obst hat Blumenkohlohren wie fast alle Ringer. 2018 gewann er in der Gewichtsklasse bis 79 Kilogramm, Freistil, die Silbermedaille bei der EM in Russland. Es war sein bislang größter Erfolg. Anfang 2020 bewies er beim Turnier in Nizza als Dritter in der Klasse bis 74 Kilogramm seine Ambitionen für die Sommerspiele in Tokio. Seither durfte er nicht mehr auf die Matte.
Im Januar vorigen Jahres hat er sich mit einer verweigerten Dopingkontrolle selbst ausgehebelt. Ein Jahr lang passierte nichts. Dann wurde der Ringer des 1. Luckenwalder SC wegen eines Verstoßes gegen Antidoping-Bestimmungen ab dem 5. Februar 2020 mit einer Sperre von zwei Jahren sanktioniert. Seither kämpft Obst vor dem Internationalen Sportschiedsgerichtshof (Cas) in Lausanne gegen die Sperre. Seither wartet er.
Wie der Stand der Dinge ist? „Still ruht der See“, sagt Obst. Ob und wann verhandelt wird, weiß er nicht. Da es sich um ein laufendes Verfahren handle, könne man „keine weitere Auskunft geben“, konstatiert die Nationale Antidoping-Agentur (Nada), die Kontrollen und Sanktionsverfahren vom Deutschen Ringer-Bund übertragen bekam.
Unter dem Tisch der Kutscherstube rührt sich der graue Weimeraner. Der Hund will gestreichelt werden. An den hölzernen Wänden hängen Pferdefotos und eine blaue Uhr mit dem Logo des 1. Luckenwalder SC. Darunter eine Autogrammkarten von Debora Lawnitzak. Auch Obsts Freundin ist Ringerin. An der Wand gegenüber prangt ein Kalender, den der Fuhrbetrieb Obst zu Weihnachten verschenkt hat. Martin Obst ackert in fünfter Generation in dem Familienunternehmen mit, das 22 Pferde zu versorgen hat.
Mal kutschiert er Hochzeitspaare mit dem Landauer, mal geht es im Kremser zur Fuchsjagd. Ein Pferde-Omnibus von 1890 gehört zum Betrieb, dessen zweites Standbein Abriss, Schutt- und Sträucherabfuhr ist. „Ich renn‘ hier hoch und runter, muss schwere Sachen heben, deshalb bin ich fitter als jeder andere auch von der Ausdauer und von der Kraft her. Ich habe ja mit 10 Jahren angefangen mit Ringen“, sagt Obst. „Ich war immer fleißiger als jeder andere, war immer der Letzte, der aus der Halle gegangen ist.“ Derzeit ist Obst, den sie beim Ringen „Obsti“ rufen, kaum noch in der Halle. Er gehört nicht mehr zum Nationalkader. Die Bundesliga, in der Obst seit 2016 für den RSV Rotation Greiz antrat, wurde abgebrochen.
„Obsti ist einer, auf den Verlass ist und der immer kämpft bis zum Ende“, sagt Trainer Tino Hempel vom RSV Greiz. Er und Sponsor Maik Wolfram gehören zu den Wenigen den Greizer Publikumsliebling unterstützen. Der Gang vor den Cas kostet 20.000 Euro, Obst kann mit Prozesskostenhilfe rechnen. Hempel sagt: „Er ist einer von denen, die ich immer in der Mannschaft haben will. Ein uriger Typ. Ich mag Menschen, die Dinge klar auf die Zwölf sagen.“ Als am 22. Januar 2019 gegen sechs, halb sieben ein Dopingkontrolleur an Obsts Wohnungstür klingelte, sagte er erst mal nichts. Er öffnete nicht, ging auch nicht ans Telefon. „Die Tage zuvor waren sehr stressig, weil wir viel zu tun hatten. Ich war ein bisschen krank, total neben der Rolle. Tags zuvor hatte ich Stress mit meinem Vater. Ich hatte früh mit ihm einen Geschäftstermin. Ich hab‘ mich fertig gemacht, die Tür aufgeschlossen und bin losgelaufen“, erzählt Obst.
Und der Dopingkontrolleur? „Er hat sich vorgestellt. Ich hab‘ gesagt, ich hab‘ keine Zeit, ich muss einen sehr wichtigen Termin wahrnehmen“, sagt Obst. Ob er wisse, was das für Konsequenzen hat, habe der Kontrolleur gerufen. Bei Erstvergehen bis zu vier Jahre Sperre. „Martin dachte, dass es ein Missed Test ist. Man darf ja zwei Missed Tests haben“, sagt Debora Lawnitzak. „Ich war nicht da. Sonst wäre das, glaube ich, nicht passiert.“ Zum Dopingkontrolleur, erzählt Obst, habe er damals noch gesagt: „Dann kommen se‘ halt am Nachmittag wieder. Es ist ja nu‘ jetzt nicht weiter wild“, meint Obst. „Was soll man denn da verbergen innerhalb von drei, vier Stunden?“ Grundsätzlich kann man in dieser Zeit eine Menge verbergen. Doping in Mikrodosen ist oft nur innerhalb weniger Stunden nachweisbar.
Bei einem ähnlichen Fall hatte sich vor zwölf Jahren der Berliner Eishockeyprofi Florian Busch nach einem Wortgefecht mit dem Doping-Kontrolleur geweigert, eine Urinprobe abzugeben. Wenige Stunden später holte er sie mit negativem Ergebnis nach. Die Nada sah darin aber einen verweigerten Test, der wie eine positive Probe mit zwei Jahren Sperre zu ahnden sei.
Obst sagt: „Es ist schon krass alles, wenn man überlegt, was man über sich ergehen lassen muss. Jeden Tag aufschreiben, wo man schläft. Ich bin der Meinung, das ist Stasi 2.0.“ Ob sich das einer überhaupt vorstellen könne, „wie erniedrigend das ist: Hose runterlassen, T-Shirt hoch. Und dann guckt ein fremder Mann dir da uffn…. Klar, man ist dazu gezwungen.“ Obst hat seine kräftigen Hände am Tisch gefaltet. Wenige Tage nach dem Vorfall schrieb er einen Entschuldigungsbrief an die Nada. Er weiß, dass er einen Fehler gemacht hat: „Ja, war blöd gewesen. Man kann es nicht ändern. Ich bin keine Maschine.“ Als sich an jenem Januarnachmittag ein zweiter Kontrolleur bei ihm meldete, empfing er ihn: „Was soll denn das, heute früh war schon so ein Clown von euch bei mir. Habt ihr Langeweile?“ Hat Obst wirklich Clown gesagt? Sein Grinsen wirkt ein bisschen verlegen. „Da ist mir dann mein loses Mundwerk… ich bin echt nicht der Fan davon, was die Dopingagenturen abziehen. Uns kontrollieren sie kaputt und da, wo wirklich gedopt wird in Amerika oder in Russland, die stopfen sich von oben bis unten zu“, sagt Obst. Aggressiv sei er aber nicht gewesen, habe nicht, wie vom Kontrolleur behauptet, eine Backpfeife angedroht.
Der Dopingtest am Nachmittag fiel negativ aus. Ebenso wie die „vier, fünf weiteren Kontrollen 2019“, sagt Obst. Sein Ruf ist dennoch beschädigt. Die Chance auf Olympia wohl dahin. Worauf hofft er jetzt? „Ich will Gerechtigkeit. Ich wollte noch mal Bundesliga ringen. Irgendwann ist ja mal mein Karriereende. Wenn es mit Olympia geklappt hätte, wäre es ein schöner Abschluss gewesen.“ Eine Rückdatierung der Sperre wäre der einzige Ausweg. Debora streicht dem Weimeraner über den Kopf. Sie schaut ihren Freund an. „Du willst ja nicht deine Karriere als Dopingsünder beenden. Das ist dir ja wichtig“, sagt sie.
Quelle: -Berliner Zeitung- Bericht von Karin Bühler